Zoigl in Windischeschenbach: Zauberformel gegen schlechte Laune
In Bayern geht ein Gespenst um: das Wirtshaussterben. Es wütet schon seit Jahren und hat schon viele Opfer gefordert. So viele, dass heute jeder vierte bayerische Ort kein eigenes Wirtshaus mehr besitzt. Eine bedrohliche Entwicklung, die ganz Bayern in Angst und Schrecken versetzt. Ganz Bayern? Nicht ganz: Ausgerechnet in den Tiefen des Oberpfälzer Walds kennt man ein Gegenmittel. Den Weg zu ihm weist ein geheimnisvoller, sechszackiger Stern.
Es ist Herbst. Letzter Tag eines langen Wochenendes. Seit knapp 200 Kilometern und 4.000 Höhenmetern radeln wir durch den Oberpfälzer Wald. Vorgestern war das Wetter noch durchwachsen, aber inzwischen ist es richtig mies geworden. Dauerregen und eisiger Ostwind zehren an der Laune und spalten unsere Fünfergruppe in zwei Lager: Während sich die einen mit leichtem Gepäck durch den Tag schlottern, ziehen die anderen Kleidungsschicht um Kleidungsschicht aus ihren Rucksäcken. Textiler Luxus versus Ganzkörpergänsehaut – die ungleiche Güterverteilung stellt unsere Gruppenharmonie auf eine harte Probe.
Durch den Märchenwald ins Zoiglland
Dass wir trotz der widrigen Umständen nicht umgekehrt sind, hat zwei Gründe. Einer davon ist die Umgebung. Denn der Oberpfälzer Wald könnte einer Robin-Hood-Verfilmung als Schauplatz dienen. Es gibt Bäche, Felsen, Schluchten, Burgen – eben alles, was man für einen echten Märchenwald braucht. Der andere Grund ist der Zoigl. Und der wartet in Windischeschenbach auf uns.
Das Wissen um den Zoigl verdanken wir unserem Mitradler Eddi. Eddi ist gebürtiger Oberpfälzer und hat in Windischeschenbach seine Kindheit verbracht. Im Nachhinein ist es unerklärlich, aber Eddi hat es jahrelang für sich behalten, dass sein Geburtsort eine geheime Bierhochburg ist. Erst vor wenigen Jahren hat er uns zu seinem Geburtstag nach Windischeschenbach (oder „Eschawo“, wie er es nennt) mitgenommen – und seitdem sind wir glühende Fans.
Homebrewing seit 500 Jahren
Der Zoigl ist ein untergäriges Bier mit wenig Kohlensäure. So weit, so unspektakulär. Doch was den Zoigl so besonders macht, ist seine Tradition. Im 15. Jahrhundert wurde den Bürgern Windischeschenbachs und anderer Oberpfälzer Städte ein besonderes Privileg erteilt: Sie durften ihr eigenes Bier herstellen und öffentlich ausschenken. Da dieses Braurecht fest an die Grundstücke und Häuser gebunden ist, hat es sich von Generation zu Generation weitervererbt und wird auch heute noch rege genutzt. Damals wie heute entsteht der echte Zoigl im Kommunbrauhaus des jeweiligen Orts. Es wird von den brauenden Bürgern gemeinsam betrieben und darf folglich auch von jedem genutzt werden. Wer an der Reihe ist, bringt einfach seine Zutaten vorbei und legt los. Auch hier spielt die Tradition eine große Rolle. Daher wird die Maische nach wie vor in einer offenen Sudpfanne über dem Holzfeuer gekocht. Nach der Hopfenzugabe nehmen die Brauer die Würze mit nach Hause und lassen sie dort im Keller gären.
Verglichen mit modernen Hightech-Brauverfahren mutet die Zoigl-Herstellung ziemlich archaisch an. Doch gerade das macht auch den Charme des Bieres aus. Weil sich die Einflussfaktoren nicht exakt reproduzieren lassen und zudem noch jeder Brauer sein eigenes Rezept benutzt, schmeckt das Endergebnis auch jedes Mal anders. Sich am Zoigl „abzutrinken“ ist damit nahezu unmöglich.
Gelebte Bierdemokratie: vorm Zoigl sind alle gleich
Doch das Trinken ist hier ohnehin nur Nebensache. Schließlich ist der Zoigl mehr als ein Bier, er ist ein echtes Erlebnis. Denn die Oberpfälzer trinken ihren Zoigl am liebsten in Gesellschaft. Und dafür sind die Zoiglstuben da. Ursprünglich waren das die Wohnstuben der Brauer – daher auch der Name. Erst in jüngeren Zeit haben sich die brauenden Familien einen eigenen Gastraum in ihren Häusern eingerichtet. Die Wohnzimmer-Atmosphäre hat sich aber bis heute erhalten. Dicht gedrängt sitzen die Gäste in bunt gemischten Gruppen beieinander. Man duzt sich, und jeder ratscht mit jedem. Auch wenn eine Zoiglstube schon rammelvoll ist (und rammelvoll sind sie eigentlich immer): Durstig nach Hause gehen muss keiner, im Gegenteil: Bei jedem Neuankömmling wird noch ein bisschen enger zusammengerückt. Ob der neue Trinknachbar Einheimischer, Zugereister, Stammgast oder Newbie ist, spielt dabei keine Rolle. Vorm Zoigl sind sie alle gleich.
Das gilt für die Gäste genauso wie für die Wirte. Konkurrenz zwischen den Zoiglstuben gibt es nicht, dafür sind die Oberpfälzer viel zu pragmatisch. Die Zoiglwirte teilen sich Jahr und Gäste einfach untereinander auf. Ausgeschenkt wird immer nur freitags bis montags, und jede Woche dürfen andere Wirte ihren Zoigl unters Volk bringen. Wer an der Reihe ist, hängt als Wegweiser einen sechszackigen Zoiglstern vor seine Tür. Touristen und andere Neulinge erkennen an den Sternen, welche Zoiglstube geöffnet hat. Einheimische und andere Insider informieren sich schon vorher im Zoiglkalender oder per Zoigl-App. Traditionsliebe in allen Ehren, wenn es schnell gehen muss, vertraut man auch in der Oberpfalz auf moderne Technik. Und was könnte dringender sein, als die Info, wo es den nächsten Zoigl gibt?
„Forget Oktoberfest — try Zoigling“
Wirtshaussterben? Die Bewohner des Zoigllands kennen das Problem nur aus den Medien. Denn allein im 5.000-Einwohner Städtchen Windischeschenbach gibt es fünfzehn Zoiglwirte, mehr als fünfzig sind es in der ganzen Region. Profi-Gastronom ist so gut wie keiner von ihnen. Denn Zoiglwirt ist kein Brotberuf, es ist eine Leidenschaft. Anders wäre es auch nicht möglich, die unfassbar niedrigen Preise anzubieten. Der halbe Liter Zoigl kostet 1,70 Euro. Für zwei bis fünf Euro gibt’s noch eine hausgemachte Brotzeit dazu. Kein Wunder, dass sich der Zoigl schon bis nach England rumgesprochen hat: „Forget Oktoberfest — try Zoigling“ jubelte die London Times vor Kurzem.
Süffiges Bier und überfüllte Zoiglstube – diese Kombination kann einem leicht zu Kopf steigen. Dennoch habe ich beim Zoigl noch nie eine unangenehme oder gar brenzlige Situation erlebt. Egal, wie spät der Abend ist und egal, wie viele Zoigl ausgeschenkt werden, die Stimmung bleibt immer gelöst und friedlich. Bei so viel Wohlfühlklima haben auch die Reibereien in unserer Fünfertruppe keine Chance: Wir sitzen „beim Gloser“, die Heizung bollert, das Bier ist kalt, die Brotzeit schmeckt und reicht für zehn. Regen, Kälte, Fahrradpannen? Nach dem ersten Schluck ist alles vergessen. Schon oft habe ich mich gefragt, woher die Oberpfälzer ihre Gelassenheit und Ruhe nehmen. So langsam verstehe ich den Grund. Sie legen sich jeden Abend mit der wunderbaren Gewissheit schlafen: Am nächsten Wochenende geht’s wieder zum Zoigl.
Link-Tipp:
Streckenverlauf und GPS-Daten haben wir bei MTB-Oberpfalz entdeckt. Wer ausgiebig zoigeln möchte, verlegt Start- und Endpunkt einfach auf Windischeschenbach J.