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Der alte Stein und das Bier

Er steht da wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten: schwer, gedrungen, in seiner grauen Undurchsichtigkeit fast schon provokant altbacken. Im englischen Sprachraum, speziell in Übersee, gilt er als typisch deutsch und wird auch bei uns oft als treuer Begleiter des idealtypischen Bayern dargestellt: der Steinkrug – der Dinosaurier unter den Trinkgefäßen. Scheinbar zumindest.

So antiquiert und vorsintflutlich wie man meinen könnte, sind „Humpen“, „Seidel“ und „Schnelle“ jedoch gar nicht. Im Münchner Raum etwa gibt es Kneipen, Wirtshäuser und Biergärten, die beim Bierausschank wieder von Glas auf „Steinzeug“ umsteigen. In diversen Online-Shops floriert derweil der Handel mit selbst gestaltbaren Krügen. Der Humpen als Souvenir und Individualgeschenk. Mit seiner ursprünglichen Funktion, dem Trinken, hat das nicht mehr allzu viel zu tun. Aber ein Blick in die Historie zeigt: Auch früher ging es beim Krug nicht nur um die Aufnahme von Flüssigkeit.

In grauer Vorzeit besiegelte man Verträge und Bündnisse durch gegenseitiges Zutrinken. Dementsprechend bedeutsam war natürlich das Gefäß, mit dem rituell angestoßen wurde. Ob aus Ton, Lehm oder Horn – das Handwerk des „Krugmachers“ hatte jahrhundertelang Konjunktur.

Die Blütezeit des Humpens liegt im 16. und 17. Jahrhundert. Die Forschungsliteratur zu Bierkrügen – ja, die gibt es tatsächlich – sagt, die kunstvollen Krüge aus der Renaissance und dem Barock seien „Zeugnisse eines üppigen Lebensstils und beispielloser Trinkfreudigkeit“. Wenn das mal nicht nach Spaß klingt.

„Üppig“ und „beispiellos“ sind in der Tat die richtigen Adjektive für die damaligen Krüge: Holzkrüge mit detailreich eingeschnitzten Jagdszenen, Silberkrüge mit ziselierten Wappenschildern und Ornamentgirlanden, Porzellankrüge mit fein aufgepinselten Ganzkörperporträts der Besitzer oder besonders dekadente Exemplare aus Steinbockhorn oder Elfenbein – nobel geht die Welt zugrunde!

Im 19. Jahrhundert stellten sich vor allem wohlhabende Bürger gerne solche Kunst-Krüge in die Bürovitrine. Hier ging es nicht mehr ums Trinken, sondern um Repräsentation und sozialen Status. Noch heute kann man für die Krüge aus den berühmten historischen Krugmacher-Manufakturen im Rheinland, in Südsachsen und Schlesien ein kleines Vermögen ausgeben.

Zurück in die Jetztzeit. Der Bierkrug hat es heutzutage aus verschiedenen Gründen nicht mehr so leicht wie früher. Stichwort eins: Hygiene. Im vollen Glas erkennt der Trinkende von außen zumindest größere Verunreinigungen. Bei der Stein-Variante ist das Vertrauenssache. Stichwort zwei: „Schankbetrug“. Verbraucherschützer kritisieren seit Jahrzehnten, dass dem Gast durch die wortwörtliche Intransparenz von Stein- und Tonkrügen die Möglichkeit genommen wird, die Füllmenge anhand des Füllstrichs zu überprüfen. Vor einigen Jahren hieß es sogar, die EU wolle den Ausschank von Bier in Steinkrügen grundsätzlich verbieten. Die Reaktion: Politiker aller Couleur polterten leidenschaftlich gegen die Normierungswut der EU – und stellten sich schützend vor Humpen und Seidel. Der Steinkrug – eine bedrohte Spezies mit Polit-Lobby.

Heute gilt: für jedes Bier ein bestimmtes Glas. In unserem Craft Beer Blog hat unsere Autorin Stephanie die Fülle an Biergläsern und ihre Spezifika detailliert erklärt. Vom Weißbierpokal über den Altbier-Becher bis hin zur Pilstulpe – die Konkurrenz an Spezialgläsern sieht nicht nur filigraner aus als der Steinkrug, sondern fördert laut vielen Biersommeliers auch noch den Geschmack des jeweiligen Biers. Die wachsende Craft-Beer-Bewegung sorgt mit ihren Kelchen und IPA-Gläsern für zusätzliche Vielfalt.

Klingt fast nach einem Abgesang auf den Bierkrug, trotz vermeintlichem Kneipen-Trend und Online-Shops. Aber wer weiß: Vielleicht verbirgt sich hinter dem heutigen Trinken aus dem Steinkrug – ob Trend oder nicht – doch wieder eine Art Ritual. Das Ritual, wenn man das Spezialglas bewusst links liegen lässt und stattdessen zum alten, schweren, grauen Humpen greift. Und das anschließende Gefühl, damit Reaktionär und Revolutionär zugleich zu sein.

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